Neue Gesetzeslage: Viele Websites müssen zukünftig barrierefrei sein

Im Frühjahr 2019 wurde der European Accessibility Act beschlossen: die EU-Richtlinie 2019 / 882. In dieser Richtlinie geht es um Barrierefreiheit in unterschiedlichen Bereichen. Sie stellt aber nicht nur eine rechtliche Pflicht dar – Barrierefreiheit ist auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Je nach individuellem Stand ergibt sich daraus Handlungsbedarf für Unternehmen, ihre Produkte und ihre Dienstleistungen.

Was ist Barrierefreiheit?

Bekannt ist die Barrierefreiheit den meisten wohl aus Gebäuden, in denen es zum Beispiel einen Fahrstuhl oder eine Rampe als Alternative zu einer Treppe gibt. Barrierefreiheit bedeutet, dass alle Menschen – unabhängig von Behinderungen und Einschränkungen – alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in vollem Umfang nutzen können.

Aber nicht nur in der baulichen Umgebung treffen Menschen auf Probleme, auch das Internet ist voller Barrieren. Unter anderem diese digitalen Hindernisse gilt es laut der oben genannten EU-Richtlinie zu beseitigen.

Wem nutzt Barrierefreiheit?

Von Barrierefreiheit profitieren alle Menschen. Besonders wichtig ist die Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung, von der rund 10% der deutschen Bevölkerung betroffen sind. Generell jedoch können alle Menschen von situativen Einschränkungen betroffen sein, sei es, weil man mit dem Kinderwagen z. B. in einen Bus einsteigen will oder vielleicht mit Taschen bepackt gerade nur eine Hand frei hat. Temporäre Einschränkungen wie eine gebrochene Hand beeinträchtigen Menschen über einen absehbaren Zeitraum. Eine langfristige Behinderung kann bei allen in Zukunft auftreten – ob durch Krankheit, Alter oder einen Unfall.

Barrieren beseitigen und alle teilhaben lassen

Mit den Änderungen durch die Richtlinie werden die individuellen Regelungen der Mitgliedsstaaten angeglichen, um Märkte zusammenzuführen und das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes zu unterstützen.

Es soll eine bessere Inklusion und mehr Gleichberechtigung in der Gesellschaft innerhalb der EU erreicht werden. Alle Menschen sollen unabhängig von Einschränkungen die gleichen Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe bekommen. So soll die Chancengleichheit erhöht und ein unabhängiges Leben ermöglicht werden. Es geht laut EU-Richtlinie 2019 / 882 darum, „den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Verkehrsmitteln, zu Information und Kommunikation“ zu verbessern.

Die zukünftige Gesetzeslage – der European Accessibility Act

Die EU-Richtlinie 2019 / 882 beinhaltet Barrierefreiheitsanforderungen für viele Produkte und Dienstleistungen. Daraus ergeben sich auch Anforderungen von Barrierefreiheit für die Privatwirtschaft. So sind u. a. Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr davon betroffen.

Wann tritt die Richtlinie in Kraft?

In Deutschland wurde die Richtlinie im Mai 2021 mit nur wenigen Änderungen als Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) verabschiedet. Die Bestimmungen müssen bis auf einige Ausnahmen ab dem 28. Juni 2025 angewendet werden.

Welche Produkte sind von den Bestimmungen betroffen?

Betroffen von der Richtlinie sind Produkte wie zum Beispiel Hardwaresysteme und die dazugehörigen Betriebssysteme, verschiedene Selbstbedienungsterminals und E-Books oder auch Kartenlesegeräte, Geld- oder Bankautomaten.

Zu den betroffenen Dienstleistungen gehören unter anderem E-Commerce, elektronische Kommunikationsdienste, Bankdienstleistungen, Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr und die Beantwortung von Notrufen an die Notrufnummer 112.

Wie sich die Vorgaben im Detail auf Unternehmen und ihre Produktentwicklung auswirken, ist aktuell noch nicht absehbar. Aber Anwendungen im Zahlungsverkehr, remote Services wie z. B. Fernwartung, die Präsentation von Produkten und Dienstleistungen im Web generell und E-Commerce-Anwendungen werden hinsichtlich Barrierefreiheit angepasst und optimiert werden müssen.

Barrierefreiheit auf Websites und in Anwendungen

Grundlegend ist für Barrierefreiheit wichtig:

  • Wahrnehmbarkeit: Alle Inhalte müssen für alle Menschen wahrnehmbar sein.
  • Bedienbarkeit: Alle Funktionen müssen für alle Menschen bedienbar sein.
  • Verständlichkeit: Alle Inhalte und Funktionen müssen für alle Menschen verständlich sein.
  • Robustheit: Alle Inhalte und Funktionen müssen durch assistive Technologien interpretiert werden können, sodass sie für die Nutzenden wahrnehmbar, verständlich und bedienbar sind. Zu diesen assistiven Technologien gehören beispielsweise Screenreader, die blinden oder sehbehinderten Menschen digitale Inhalte in einer nicht visuellen Form ausgeben, wie etwa als Audioausgabe oder über eine Braillezeile.
Die Darstellung von Bildschirminhalten kann für Menschen mit Sehbehinderung durch entsprechende Assistenzsysteme ihren Bedürfnissen gemäß angepasst werden

Barrierefreie Inhalte und Funktionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie immer über mehr als einen sensorischen Kanal bereitgestellt werden. So haben Menschen mit Einschränkungen immer eine alternative Bedienform. Eine blinde Person kann sich Texte zum Beispiel anhören. Eine Person mit eingeschränktem oder fehlendem Hörvermögen kann zu einem Video die Untertitel lesen und so das Gesprochene verfolgen. Auch über diesen zusätzlichen sensorischen Kanal müssen die Inhalte und Funktionen wahrnehmbar, verständlich und bedienbar sein. Diese Alternative muss auch bei Eingabemöglichkeiten mitbedacht werden. Da die Einschränkungen, die es zu beachten gilt, sehr unterschiedlich sind, müssen verschiedene Maßnahmen getroffen werden. Eine Person mit Farbenblindheit sollte evtl. nicht auf einen vorgelesenen Text ausweichen müssen, sondern die Möglichkeit haben, den Kontrast so einzustellen, dass der Inhalt für sie lesbar wird.

Unterschiedliche Sehbehinderungen können über entsprechende Simulationsbrillen nachempfunden werden

Was bedeutet das für Unternehmen?

Unternehmen sollten überprüfen bzw. überprüfen lassen, inwiefern sie von der neuen Richtlinie betroffen sind und ob sie dementsprechend ihre Produkte, ihre Dienstleitungen oder ihre Website den Barrierefreiheitsanforderungen anpassen müssen. Auch wenn es für die eigenen Produkte und Dienstleistungen aktuell bis 2025 noch keine rechtliche Verpflichtung gibt, kann es trotzdem sinnvoll sein, sie barrierefrei zu gestalten.

So vergrößert sich nicht nur automatisch die Zielgruppe: Aus Maßnahmen zur Barrierefreiheit, wie z. B. die Angabe von Alternativtexten auf Bildern und Videos, ergeben sich auch Synergieeffekte wie die bessere Auffindbarkeit in Suchmaschinen. Zudem kann man so als Unternehmen auch ein Statement für Gleichberechtigung und Inklusion setzen.

Welche Beeinträchtigungen müssen beachtet werden?

Um Websites und Anwendungen für alle Nutzenden barrierefrei gestalten zu können, ist es wichtig zu wissen, wer die Nutzenden sind und welche Einschränkungen sie haben. So kann besser eingeschätzt werden, ob alle Menschen die Website oder Anwendung in vollem Umfang wahrnehmen, verstehen und bedienen können.

Beispiele für verschiedene Arten von Einschränkungen

Kritik am neuen Gesetz

Es gibt einige Kritik von verschiedenen Verbänden und Betroffenen, denen die Richtlinie nicht weit genug geht – es würden noch viele Barrieren bestehen, die man mit dieser Richtlinie hätte beseitigen können. Die Richtlinie wird für zu viele Ausnahmen und eine zu langsame Umsetzung kritisiert, da der Übergangszeitraum für einige Produkte und Dienstleistungen sehr großzügig bemessen sei. Kritiker*innen sagen, dass die Richtlinie nicht ausreichen wird, um in der EU für vollständige Barrierefreiheit und Gleichberechtigung zu sorgen.

Fazit

Die neue EU-Richtlinie und die entsprechenden Gesetze in den Mitgliedsstaaten werden für Veränderung sorgen und viele Bereiche und Angebote besser zugänglich machen. Dennoch bleiben Baustellen offen sowie Raum für weitere Verbesserungen. Aber auch wenn die Richtlinie es nicht konkret vorschreibt, können Unternehmen sich trotzdem dazu entscheiden, ihr Angebot barrierefrei zu gestalten, es damit einer größeren Gruppe von Menschen zugänglich machen und so mit gutem Beispiel vorangehen. Barrierefreiheit nutzt nicht nur der Kundschaft. Auch ein Unternehmen profitiert davon.

Über die Autorin

Felizitas Müller studiert User Experience an der Hochschule Aalen. Sie arbeitet im Rahmen eines sechsmonatigen Praktikums bei rocket-media im Bereich User Experience und Usability. Sie interessiert sich besonders für den direkten Kontakt mit Nutzenden in Interviews und Usability Tests.

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Bildquelle: rocket-media