Laut Branchenbericht 2022 der German UPA  (Berufsverband der Deutschen Usability und User Experience Professionals) sehen 74% der UX-Professionals die größte Herausforderung ihrer Arbeit aktuell darin, Usability und User Experience (UX) in die Entwicklungsprozesse des jeweiligen Unternehmens besser einzubetten. Zu starr sind oft die bisherigen Abläufe, zu ungenau das Wissen darüber, was es für eine „bessere UX-Integration“ wirklich braucht und wie agile Entwicklungsprozesse damit kombiniert werden können. Um sich als Unternehmen besser einschätzen zu können, einen Status-Quo der Situation zu erheben und Schritt für Schritt eine bessere UX-Integration zu etablieren, hilft die Orientierung an einem sogenannten UX-Reifegrad-Modell.

1. Welche Reifegradmodelle gibt es?

UX-Reifegrad-Modelle werden seit mehreren Jahren in verschiedenen Versionen und Ansätzen verwendet und unterstützen UX-Professionals und Organisationen dabei, ihre derzeitige Situation einzuschätzen und nächste Entwicklungsschritte zu planen. Das bekannteste Reifegradmodell basiert auf den Ansätzen von Jakob Nielsen (Corporate UX Maturity) und besteht aus insgesamt sechs Stufen, die aufeinander aufbauend unterschiedliche UX-Reifegrade beschreiben.

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2. Die Stufen der UX-Reife: Schritt für Schritt

Was sind die Charakteristika der einzelnen UX-Reifestufen und wie kann man die menschzentrierte Entwicklung befördern und vorantreiben? Im Folgenden haben wir die wesentlichen Merkmale einmal zusammengefasst:

Stufe 1: Fehlendes UX-Bewusstsein

So lange Usability und User Experience keine relevanten Themen im Unternehmen sind, muss in einem ersten Schritt bewertet werden, welchen Mehrwert UX für die eigene Entwicklungsarbeit darstellt. Negatives Kund*innen- oder Nutzer*innen-Feedback kann den Ausschlag dazu geben. Oft machen sich daraufhin erste „Pioniere“ im Unternehmen mit dem Thema UX vertraut.

Stufe 2: Ad Hoc UX

Sobald sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit dem Thema UX intensiver beschäftigen, werden erste Versuche in nutzerzentrierter Entwicklung gemacht. Um das Bewusstsein für das Thema zu stärken, ist es wichtig, erste Pilotprojekte und darin erreichte Verbesserungen zu dokumentieren und in anderen Projekten bzw. Teams zu präsentieren. Eine Aus- bzw. Weiterbildung von Teammitgliedern zu UX- und Usability-Professionals trägt hier maßgeblich dazu bei, die Kompetenzen im Team weiter auszubauen.

Stufe 3: Projektbasierte UX

Sobald ein geregeltes UX-Budget in Projekten vorhanden ist, sollten Ziele vereinbart, Maßnahmen geplant und Ergebnisse dokumentiert sowie verschiedenen Projekt-Teams präsentiert werden. So können Ergebnisse und Mehrwerte der UX-Maßnahmen nach und nach unternehmensweit vorgestellt und kommuniziert werden.

Stufe 4: Gemanagte UX

Werden Abhängigkeiten der UX-Maßnahmen abteilungsübergreifend erkannt, sollten UX-Methoden strategisch eingesetzt werden. Es ist wichtig, alle Interessensvertreter*innen zum Thema frühzeitig mit ins Boot zu holen und erste übergreifende UX-Ziele zu definieren.

Stufe 5: Integrierte UX

Der Ansatz integrierter UX verfolgt das Ziel, den Entwicklungsprozess von Anbeginn gemeinsam mit Nutzer*innen zu bearbeiten. Strukturiertes und fundiertes User Research ist dabei ein wichtiger Faktor, um Benutzer*innen und ihre Aufgaben zu verstehen und die Produktentwicklung nutzungszentriert voranzutreiben. Auf Basis der Erkenntnisse, wie Benutzer*innen arbeiten und welche Ziele sie verfolgen, können Nutzungsanforderungen in den Projekten angemessen berücksichtigt, anhand von Prototypen regelmäßig getestet und im Produkt umgesetzt werden.

Stufe 6: Institutionalisierte UX

Die höchste Stufe ist eine unternehmensweite UX-Strategie, in der die Produkt- und Service-Entwicklung generell nutzungszentriert ausgelegt ist und gelebt wird. Abteilungs- oder auch standortübergreifend wird der nutzungszentrierte Prozess etabliert und gemeinsam an Zielen gearbeitet.

3. Welche Stellschrauben bringen das Unternehmen voran?

Um den UX-Reifegrad eines Unternehmens zu erhöhen, gibt es verschiedene Stellschrauben, die im UX-Management betrachtet werden müssen:

  • UX richtig kommunizieren
  • UX-Prozesse definieren & optimieren
  • Ressourcen & Teams aufbauen
  • Maßnahmen und Methoden einsetzen

Die UX-Kommunikation im Team und im Unternehmen erhöhen

Ein wichtiger Bestandteil, um den UX-Reifegrad im Unternehmen zu erhöhen, ist das Verständnis für das Thema im gesamten Team zu festigen. Die Verantwortung einer guten UX liegt nicht allein im UX-Team: Jede*r Mitarbeiter*in trägt einen Mehrwert zur Verbesserung eines Produkts bei. Dafür muss das Thema entsprechend kommuniziert und Wissen verteilt werden, um Abteilungen wie Vertrieb, Support, Marketing etc. entsprechend abzuholen. Firmeninterne Schulungen, Unterlagen und Veranstaltungen können z. B. dabei helfen, das Thema im Team zu verankern.

UX-Prozesse definieren und optimieren

Der Human-Centered-Design Prozess (kurz: HCD-Prozess) beinhaltet Aktivitäten, um ein Produkt in seiner Usability und UX optimieren zu können. Um diese Prozessabläufe zu verbessern, kann es zunächst helfen, einen Status Quo aufzunehmen: Was wird wann im Projektverlauf mit welchem Ziel durchgeführt? Können daraus übergreifende Prozessschritte definiert werden und gegebenenfalls Qualitätsschritte für weitere Projekte abgeleitet werden? Der UX-Prozess sollte nach und nach übergreifend in Teams bzw. Abteilungen eingesetzt werden.

Ein gut ausgebildetes Team aufbauen und Ressourcen bereitstellen

UX-Arbeit heißt in vielen Fällen zunächst Mehraufwand. Es benötigt Zeit und Personen, die UX-Aktivitäten in Projekten mit begleiten. Um eine teamübergreifende UX-Kompetenz aufzubauen, sollten alle Kolleg*innen grundlegend in diesem Fachbereich ausgebildet werden. Zudem muss Zeit- bzw. Geldbudget in den Projekten/Teams eingeplant werden, auf die das UX-Team im Entwicklungsverlauf zugreifen kann.

UX-Maßnahmen und Methoden einsetzen

Um die Produktentwicklung im UX-Prozess bestmöglich umzusetzen, kommen verschiedene Methoden und Maßnahmen zum Einsatz. Diese sollten klar definiert sein. Ebenso muss der/die Nutzer*in in alle Aktivitäten mit eingeplant werden: User Research und User Testing sind also ein wesentlicher und dauerhafter Bestandteil und dürfen nicht vernachlässigt werden.

4. Fazit: UX-Reife erhöhen – ein immerwährender Prozess

Die UX-Reife im Unternehmen zu erhöhen ist keine Aufgabe, die in ein paar Monaten gestemmt wird; die Entwicklungsdauer zieht sich meistens über mehrere Jahre. Gutes UX-Management kann die Integration von UX-Themen und guter Usability im Team und im gesamten Unternehmen fördern. Es hilft also, sich stetig zu reflektieren, den Status Quo regelmäßig zu erheben, neue Ziele und die nötigen Maßnahmen dafür zu definieren, um Schritt für Schritt eine bessere, nutzerzentrierte Entwicklung zu etablieren.

Zur Autorin

Linda Alers ist Usability Engineer bei rocket-media. Als anerkannte UX-Trainerin bildet Sie nach internationalen Standards des UXQB in den Bereichen Usability Grundlagen, User Requirements Engineering und Usability Testing aus. An der Hochschule Aalen unterrichtete Sie als Dozentin im Studienfach User Experience und ist Mitorganisatorin des World Usability Days.

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