Aller Anfang ist schwer: Bei der Entwicklung neuer Anwendungen oder für Releases bestehender Systeme stehen Projektteams vor allem vor der Herausforderung, eine große Menge an Anforderungen zu definieren und zu managen. Systemanforderungen setzten sich dabei zum Beispiel aus gesetzlichen, marktorientierten, organisatorischen und fachlichen Leistungen zusammen. Geht man den Weg einer nutzerzentrierten Entwicklung, dann kommen weitere entscheidende Faktoren dazu — die Nutzungsanforderungen bzw. User Requirements.

Um die Nutzungsqualität eines Systems zu definieren und die Kriterien hinsichtlich Gebrauchstauglichkeit, Barrierefreiheit, eine risikofreie Nutzung und letztendlich ein entsprechendes Benutzererlebnis zu generieren, kommt man um die Erhebung und Definition von Nutzungsanforderungen nicht herum.

Nutzungsqualität und technische Qualität
Bei der Entwicklung eines Systems ist eine saubere technische Qualität unumstritten. Eine Systemlösung muss zuverlässig, performant, sicher und wartbar sein – um nur einige systemrelevante Qualitätskriterien zu nennen. Diese technischen Eigenschaften werden seitens der Nutzer vorausgesetzt und laufen eher unbemerkt im Hintergrund einer Anwendung. Im Vergleich dazu werden Nutzungsqualitäten vom Kunden aktiv wahrgenommen, da er davon unumgänglich bei der Benutzung betroffen ist.

Von Annahmen zu Tatsachen
Nutzerzentrierte Entwicklung bedeutet, für die Anforderungen der Benutzergruppen zu entwickeln, deren Bedürfnisse und deren Nutzungskontext zu verstehen und dafür optimale Lösungen bereitstellen zu können. Wer Nutzungsanforderungen allein auf Basis von „Annahmen“ und „Erfahrungen“ der Projektteam-Mitglieder einbringt, kann die „echte“ Perspektive der Nutzer nicht einnehmen. Das Vorgehen im User Requirements Engineering sorgt dafür, relevante Daten und Informationen aus der realen Nutzung methodisch und nachweisbar zu erheben, diese jederzeit zurückzuverfolgen und tatsächlich belegbar zu machen. Die Vorteile dieser „Grundlagenarbeit“ machen sich über den gesamten Projektverlauf bemerkbar:

  • Klarheit über die Erwartungen und Bedürfnisse an das System schaffen
  • Wichtige Anforderungen sortieren, in Reihenfolge bringen und so Diskussionen im Team vermeiden
  • Kosten sparen durch spätere Änderungswünsche oder Anpassungen
  • Innovationsplanung aktiv steuern: was interessiert die Benutzer und womit können auch in Zukunft Systeme unterstützend eingesetzt werden?

Grundlage: Den Nutzer kennenlernen und verstehen
Grundlage des User Requirements Engineering ist das Verstehen und Dokumentieren des Nutzungskontextes. Dazu zählen alle Daten und Informationen rund um die späteren Zielgruppen, die in einem ersten Schritt erhoben und analysiert werden müssen:

  • Alle relevanten Benutzereigenschaften, wie z.B. demografische oder fachliche Aspekte
  • (Arbeits-) Aufgaben, die Benutzer erledigen und ggfs. schon ein bestehendes und zu optimierendes System nutzen
  • Informationen über den Kontext, in dem die Zielgruppe ein System anwendet

Um sich diese Punkte klar zu machen und das Verständnis gegenüber dem Nutzer zu erreichen, werden Methoden aus dem User Research (Benutzerforschung) angewendet:

  • Interviews mit Nutzern
  • Beobachtung der Zielgruppen im Nutzungskontext
  • Fokusgruppen & Workshops mit Nutzern und Stakeholdern

In einem zweiten Schritt werden die erhobenen Daten in Form von z.B. Benutzergruppenprofilen, Personas, User Journey Maps oder Ist-Szenarien erfasst und für die weitere Arbeit im Projekt dokumentiert.

Zwischen Wünschen, Erfordernissen und Anforderungen
Aus den gesammelten User Research Informationen können relevante Punkte für die Weiterentwicklung einer Anwendung abgeleitet werden. Im Austausch mit dem Nutzer lassen sich zuerst zwei grundlegende Dinge analysieren:

  • Benutzerwünsche: Alle subjektiv vom Benutzer genannten Aspekte, Ideen etc., die sich auf die Gestaltung des Systems beziehen.
  • Erfordernisse (engl. User Need): Objektive Informationen oder Funktionen, die für Benutzer als notwendige Voraussetzung gegeben sein müssen, um ihr Ziel (z.B. die Erledigung ihrer Arbeitsaufgabe) erreichen zu können.

Auf Basis der identifizierten Erfordernisse werden die Nutzungsanforderungen an das System, die User Requirements, abgeleitet.

Nutzungsanforderungen (engl. User Requirements): Bilden die Grundlage für die Nutzung eines Systems und geben wieder, was der Nutzer in der Anwendung erkennen, auswählen oder eingeben muss.

Dem Projektteam stehen dadurch für die Gestaltung der Anwendung klar definierte Nutzungsanforderungen zur Verfügung. Außerdem können in späteren Usability-Tests genau diese Nutzungsanforderungen gegengeprüft werden. Die Entwicklung der Anwendung wird also konsequent auf die Gebrauchstauglichkeit ausgelegt.

Das Ergebnis von User Requirements Engineering
Projekte, die dem nutzerzentrierten Prozess folgen, in denen User Research betrieben und die daraus entstehenden User Requirements abgeleitet werden, steigern kontinuierlich die Nutzungsqualität der Anwendung. Das Arbeiten auf Grundlage von „Annahmen“ wird abgelöst und der Fokus auf wirklich notwendige und unterstützende Anforderungen gelegt. Das spart letztendlich Diskussionen über Meinungen, verkürzt Entscheidungswege und kommt Zeit und vor allem dem Projektbudget zugute.

Zum Autor
Linda Alers ist Usability Engineer bei rocket-media. Als anerkannte UX-Trainerin bildet Sie nach internationalen Standards des UXQB in den Bereichen Usability Grundlagen, User Requirements Engineering und Usability Testing aus. An der Hochschule Aalen unterrichtete Sie als Dozentin im Studienfach User Experience und ist Mitorganisatorin des World Usability Days.

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Bildquellen:
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