Digitale UX-Methoden am Beispiel von Interviews und Workshops

Digitalisierung im Highspeed – wie die Welt durch COVID19 remote wurde
Anfang März 2020 fand in den Räumlichkeiten von rocket-media das bis jetzt letzte Usability- und UX-Seminar „live“ statt. Mit meinen Teilnehmern diskutierte ich während dieser drei Tage aufgeregt über die möglichen Veränderungen, die auf uns zukommen könnten. Eine Woche darauf waren meine Kollegen und ich bereits im Homeoffice – auf unbestimmte Zeit. Innerhalb von 24 Stunden hatten wir alle unsere Büroarbeitsplätze nach Hause verlegt. Unsere IT sorgte in nur wenigen Stunden für einen reibungslosen Zugriff auf alle Programme und Netzwerke und das Arbeitsleben ging weiter. „Wow“ dachte ich mir, als ich realisierte wie schnell die Firmenstruktur sich auf die neuen Maßnahmen anpassen konnte. Wie kann ich nun meinen Arbeitsbereich, Usability & UX, auf die neue Situation einstellen? Schließlich ist ein großer Teil dieser Arbeit, mit Menschen in Kontakt zu sein.

Die Wochen des Lockdowns haben dazu geführt, dass große Teile der täglichen Kommunikation und Arbeit in den digitalen Bereich verlagert worden sind

Nutzerkontakt – das Kernstück der UX-Arbeit
Im Bereich des Usability-Engineerings sind unsere Nutzer unser Goldschatz. Mensch- bzw. nutzerzentrierte Softwareentwicklung entsteht erst durch das Einbringen von Feedbacks der Nutzer. Um diese zu erfassen, arbeiten Usability-Professionals mit verschiedenen Methoden und Setups, um die Bedürfnisse von Nutzern aufzunehmen: Interviews, Beobachtungen, Usability-Tests, Workshops, um hier nur ein paar der bekanntesten zu nennen. Ein großer Teil dieser Arbeit findet in der direkten Kommunikation statt, d.h. man besucht den Nutzer vor Ort, lässt sich Arbeitsweisen zeigen und erklären, veranstaltet Interview- oder Testsitzungen und kann sich so direkt mit den Menschen austauschen. Die Herausforderung ist also, diese Dinge nun digital zu ermöglichen.

Nutzerforschung digital
Glücklicherweise reagierten die Softwarehersteller in einer enormen Geschwindigkeit auf die Anpassungen der neuen Situation. Die Nutzungszahlen von z.B. Microsoft Teams sprangen innerhalb einer Woche um 12 Millionen Nutzer nach oben. Kollaborations- und Kommunikationssoftware ist auch für den UX-Arbeitsbereich eines der aktuell wichtigsten Tools, um mit den Menschen weiterhin in Kontakt zu bleiben. Wie sich das Methoden-Setup durch die aktuellen Kontaktbeschränkungen digital angepasst hat und was uns dabei an neuen Herausforderungen begegnet, erkläre ich anhand von zwei gängigen UX-Methoden:

  • Remote-Interview
  • Online-Workshop

Das Remote-Interview

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Nutzer zu einem Themenfeld oder einer Anwendung zu interviewen, ist ein klassisches Vorgehen im User Research. Oft verbindet man die Fragerunde mit einer Beobachtung des Nutzers im Kontext der Bedienung („contextual inquiry“). Interviews können mit dem Einsatz entsprechender Software sehr gut digital durchgeführt werden.

Vorbereitung
Was sonst mit Stift, Papier und einem Gespräch funktioniert hat, benötigt remote etwas mehr vorbereitende Planung. Um dem Nutzer möglichst viele technische Hürden zu nehmen, steht der UX-Professional in der Verantwortung, das komplette Setup vorzubereiten und so angenehm wie möglich zu gestalten. Dem Nutzer sollte der Zugang zum Online-Gespräch im besten Fall über einen einfachen Link ermöglicht werden. Auch zeitlich sollte man sich flexibel zeigen. Die Teilnehmer sind möglicherweise im Homeoffice, in der Kinderbetreuung oder nicht an allen Tagen zu erreichen.

Durchführung
Bei einer Gesprächssituation nutzen Usability-Professionals den Moment, um den Nutzer neben seinen fachlichen Erfahrungen auch menschlich kennenzulernen. Deshalb hilft es beim Remote-Interview, sein Gegenüber zu sehen – also Kamera an! Ein Lächeln bricht das Eis und die Teilnehmer kommen leichter in die Gesprächssituation. Auch im Remote-Gespräch ist ein weiterer Kollege zum Protokollieren sinnvoll und empfehlenswert. Gesprächsaufzeichnung sind online zwar noch verführerischer, dennoch ist ihre Auswertung immens zeitaufwendig. Produkte, die digital zugänglich sind, können per Screensharing auch während des Gesprächs gezeigt und diskutiert werden.

Was ist wichtig

  • Einladungs-Mail an die Teilnehmer mit Termin, Thema und Ziel des Interviews versenden.
  • Einladungslink zur Software bzw. zum Kommunikationstool, das für das Gespräch genutzt wird, nicht vergessen.
  • Im Vorfeld genau erläutern, welche technischen Mittel zum Einsatz kommen werden (Screensharing, Kamera, …).
  • Ein Interview-Leitfaden hilft für die Gesprächsführung.
  • Neben dem Moderator ist ein weiterer Kollege für den Termin sinnvoll, der das Gespräch parallel dokumentiert.
  • Ergebnisse zeitnah auswerten, solange das Gespräch noch „frisch“ ist.

Der Online-Workshop

Was analog machbar ist, geht auch digital: Aufgaben wie die Arbeit mit sticky notes, Ideensammlungen oder Card Sorting sind mit kollaborativen Online-Tools, die Whiteboard-Funktionen bieten, gut durchführbar

Auch das Workshop-Format ist eine der häufig eingesetzten Methoden, die im UX-Umfeld in unterschiedlichen Entwicklungsphasen angewendet wird. Workshops sind perfekt geeignet, um verschiedene Meinungen und Einstellungen an „einen Tisch zu bringen“. Arbeits- und Entwicklungsergebnisse werden im Team erarbeitet, ausformuliert und es wird ein gemeinsames Bild zu einem Thema geschaffen. Was sonst in einem physischen Arbeits- oder Projektraum passiert, kann mit guter Organisation ebenso digital durchgeführt werden. Entsprechende Softwareunterstützung ermöglicht die Zusammenarbeit mit größeren Gruppen. Analog zu real stattfindenden Workshops können sich innerhalb einer Arbeitsgruppe auch kleinere Teams in „Workspaces“ treffen und diskutieren. Neben Pinnwänden und Whiteboards sind auch im virtuellen Raum viele der klassischen Arbeitsmethoden wiederzufinden.

Vorbereitung
Um einen virtuellen Arbeitsraum zu ermöglichen, kann Software wie beispielsweise InVision, Freehand, Figma, Miro etc. genutzt werden. Als Organisator sollte man darauf achten, dass allen Teilnehmern ein problemloser Zugang zum digitalen Workshop möglich ist. Hier ist es hilfreich, das technische Setup vorab in einem kurzen Termin zu testen. Auch im digitalen Format müssen der Ablauf sowie das Arbeitsmaterial gut vorbereitet sein. Wenn es die Software ermöglicht, können im Termin gemeinsame Boards und Vorlagen genutzt werden. Planen Sie für digitale Workshops mehr Zeit und vor allem mehr Pausen ein. Das Sitzen und die Bildschirmarbeit ermüden die Teilnehmer deutlich mehr als im realen Umfeld. Als Moderator darf man die Teilnehmer gerne motivieren, sich in den Pausen aktiv zu bewegen und vor allem den Bildschirm zu verlassen.

Durchführung
In der Rolle des Organisators ist man pünktlich und öffnet bereits vor dem offiziellen Start den „Besprechungsraum“ um Teilnehmer zu empfangen. Auch hier macht es Sinn, dass zu Beginn alle Teilnehmer die Kameras aktivieren und die Gruppe sich sieht. Wenn sich noch nicht alle Personen kennen, ist eine Vorstellungsrunde wichtig. Egal ob mit Teilnehmern vor Ort oder in einem virtuellen Raum — jeder Workshop-Termin sollte eine klare Agenda sowie abgestimmte Regeln haben. Beides kann gleich zu Beginn in gemeinsamer Runde vorgestellt werden. Vor der ersten Arbeitsaufgabe ist es sinnvoll, allen im Raum die virtuellen Arbeitsmaterialien und Grundfunktionen zu zeigen und kurz ausprobieren zu lassen. Danach können die einzelnen Arbeitssessions beginnen. Auch online ist der Moderator dafür zuständig, Zeitslots einzuhalten und die Mitglieder durch die Veranstaltung zu führen. Zum Abschluss sollte es eine Zusammenfassung und eine Feedbackrunde zum Termin geben.

Was ist wichtig

  • Eine gute Termineinladung enthält das Workshop-Ziel, eine Erklärung zum Format, eine Agenda und einen Einladungslink zur verwendeten Software bzw. dem Kommunikationstool
  • Ein separater Termin vorab ist hilfreich, um die Technik mit allen Teilnehmern zu prüfen.
  • Alle Workshop-Vorlagen und Arbeitsthemen müssen vorab für die digitale Bearbeitung vorbereitet werden.
  • Der virtuelle Workshopraum muss pünktlich geöffnet werden.
  • Der Workshop beginnt mit einer Vorstellungsrunde, der Agenda sowie den Workshopregeln.
  • Alle Funktionen der Plattform müssen kurz vorgestellt werden. Eine einfache Aufgabe zum Start erleichtert den Einstieg, um die Online-Werkzeuge auszuprobieren.
  • Der Moderator führt durch die Veranstaltung und achtet auf die Einhaltung der Zeitslots.
  • Der Termin endet pünktlich und offiziell mit einer Zusammenfassung und einer Feedbackrunde.
  • Arbeitsergebnisse sollten direkt im Anschluss sortiert, gesammelt und dokumentiert werden.
Digitale Workshop-Situation: Video-Telefonie erleichtert die Arbeit in der Gruppe und viele Plattformen bieten entsprechende Funktionen

Fazit

In Bezug auf die Digitalisierung in Form von virtuellen Meetings und Veranstaltungen brachte der Corona-Shutdown diese Formate ein großes Stück nach vorne. Auch Personen, die vorher zögerlich gegenüber Online-Besprechungen waren und selten Remote-Meetings nutzten, stehen dem Thema inzwischen offener gegenüber. Hemmschwellen gegenüber der Technik sind spürbar weniger geworden. Für UX-Professionals erleichtert dies das Arbeiten auf der einen Seite enorm — Nutzer sind leichter greifbar und das Einholen von Feedback ist mit weniger Aufwand verbunden. So gut und effizient die virtuellen Methoden auch funktionieren, bleibt der menschliche und direkte Kontakt ein Stück weit auf der Strecke. Neben virtuellen Meetings am Bildschirm, vielen Chats und E-Mails freue ich mich wahnsinnig darauf, wieder im „realen Leben“ mit Menschen zu arbeiten und in Kontakt zu treten. Ich hoffe, dass uns in Zukunft eine gute 50/50 Mischung aus beiden Welten – der analogen wie der digitalen – erhalten bleibt.

Zum Autor
Linda Alers ist Usability Engineer bei rocket-media. Als anerkannte UX-Trainerin bildet Sie nach internationalen Standards des UXQB in den Bereichen Usability Grundlagen, User Requirements Engineering und Usability Testing aus. An der Hochschule Aalen unterrichtete Sie als Dozentin im Studienfach User Experience und ist Mitorganisatorin des World Usability Days.

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