Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz BFSG trat am 29. Juni 2025 in Kraft. Das Gesetz konfrontiert kleine und mittelständische Unternehmen, insbesondere Finanzinstitute mit neuen Compliance-Anforderungen. Die Grundpflichten zur digitalen Barrierefreiheit greifen umfassend. Unter bestimmten Voraussetzungen eröffnet der Gesetzgeber allerdings einen gerade für kleine und mittelständische Unternehmen sehr relevanten Ausnahmetatbestand: die unverhältnismäßige Belastung nach § 17 BFSG. Nutzen Sie die legitimen Sonderregelungen sofern wirtschaftlich, technisch oder organisatorisch notwendig.

Der Artikel entstand inhaltlich unter dem Mentoring der auf Wirtschaftsrecht spezialisierten Münchner Anwalts-Sozietät drrp Rechtsanwälte PartmbB.

BFSG und die Ausnahmen – rechtlichen Grundlagen der Ausnahmeregelung

Die Anforderungen an Barrierefreiheit gelten nur insoweit, als deren Einhaltung nicht zu einer unverhältnismäßigen Belastung nach Anlage 4 des betreffenden Wirtschaftsakteurs führt. Diese Formulierung ist bewusst restriktiv gehalten. Sie stellt keine generelle Befreiung dar, sondern eine fallbezogene Abwägung zwischen Barrierefreiheitspflicht und wirtschaftlicher Zumutbarkeit.

Die Ausnahmeregelung findet ihre konkrete Ausgestaltung in Anlage 4 des BFSG, die detaillierte Prüfkriterien für die Bewertung einer unverhältnismäßigen Belastung definiert. Entscheidend ist dabei: Die Beweislast liegt beim Wirtschaftsakteur, der sich auf diese Ausnahme berufen möchte.

Betroffenenkreis: Wer kann die Ausnahme geltend machen?

Grundsätzlich können alle Wirtschaftsakteure, die unter das BFSG fallen, die Ausnahme der unverhältnismäßigen Belastung geltend machen. Für Banken und Finanzdienstleister ist dies besonders relevant, da Bank- respektive Finanzdienstleistungen explizit vom Anwendungsbereich des BFSG erfasst werden. HINWEIS: Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten und höchstens 2 Millionen Euro Jahresumsatz, die Dienstleistungen anbieten, sind vom Gesetz ausgenommen. Für alle anderen Finanzinstitute – vom regionalen Finanzdienstleister bis zur Großbank – gelten die BFSG-Anforderungen grundsätzlich voll umfänglich.

BFSG - die unverhältnismäßige Belastung

BFSG relevante Ausnahmeregelungen

Prüfkriterien nach Anlage 4 BFSG

Die Bewertung einer unverhältnismäßigen Belastung folgt einem strukturierten Prüfschema. Kosten im Zusammenhang mit der Prüfung des Produkts oder der Dienstleistung unter dem Aspekt der Barrierefreiheit; Kosten im Zusammenhang mit der Erstellung der Dokumentation sind dabei explizit zu berücksichtigen. Jene Anlage 4 BFSG strukturiert die Prüfung in mehrere Dimensionen:

  • Wirtschaftliche Kriterien

    Hier erfolgt eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zwischen den Implementierungskosten und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Unternehmens. Vergleich Nettokosten, Nettoumsatz, Vorteile bildet das Herzstück dieser Bewertung. Banken müssen daher ihre Compliance-Kosten detailliert kalkulieren und ins Verhältnis zu ihrem Geschäftsvolumen setzen.

  • Organisatorische Belastung
    Eine unverhältnismäßige Belastung kann unter anderem dann vorliegen, wenn die Einhaltung der Anforderungen an die Barrierefreiheit eine zusätzliche übermäßige organisatorische oder finanzielle Belastung für dich darstellt. Für Finanzinstitute bedeutet dies: Nicht nur die direkten Implementierungskosten sind relevant, sondern auch die organisatorischen Umstellungen in Prozessen, Systemen und Personalstrukturen.
  • Technische Machbarkeit
    Die Prüfung umfasst auch die technische Realisierbarkeit der geforderten Barrierefreiheitsmaßnahmen. Gerade bei gewachsenen IT-Landschaften in Banken können legacy-bedingte technische Hürden eine unverhältnismäßige Belastung begründen.
  • BFSG - die unverhältnismäßige Belastung

    Unverhältnismäßige Belastung – die Ausnahmereglungen im BFSG

    Selbstbeurteilung und Dokumentationspflichten

    Ein zentraler Aspekt der Regelung: Unternehmen dürfen selbst beurteilen, ob einer der Ausnahmetatbestände vorliegt. Diese Selbstbeurteilung ist jedoch nicht willkürlich, sondern muss fundiert und nachvollziehbar erfolgen. Die entsprechende Dokumentation müssen die AkteurInnen machen und mindestens fünf Jahre aufbewahren. Für Banken und Finanzdienstleister bedeutet dies konkret: Eine umfassende Kosten-Nutzen-Analyse, die alle relevanten Faktoren der Anlage 4 BFSG berücksichtigt, muss erstellt und archiviert werden. Hier ist dringend eine revisionssichere Dokumentation und somit externe Unterstützung angeraten.

    Die Berufung auf unverhältnismäßige Belastung steht nicht ‚isoliert im Raum‘. Darüber hinaus kann es bei einer Berufung auf Ausnahmen – beispielsweise die unverhältnismäßige Belastung in einer Konformitätserklärung – zu einer Überprüfung kommen. Die Marktüberwachungsbehörden können die Begründung der Ausnahme prüfen und im Zweifel beanstanden. Wird keine Konformität hergestellt, können Maßnahmen wie die Verhängung eines Bußgeldes bis hin zur Untersagung der Bereitstellung des Produktes oder des Dienstleistungsangebots folgen. Für Banken und Finanzdienstleister kann dies existenzbedrohende Dimensionen annehmen, da eine Untersagung der Dienstleistungserbringung faktisch einem Geschäftsverbot gleichkäme.

    Praktische Handlungsempfehlungen

    Grundsätzlich gilt: zur Nutzung der Tatbestände rund um die Perspektive ‚unverhältnismäßige Belastung‘ sollte externe Unterstützung hinzu gezogen werde. Insbesondere zur Gewährleistung objektiver Dokumentation. Für kleine und mittelständische Banken sowie andere Finanzdienstleister ergeben sich ganz prinzipiell folgende strategische Ansätze:

    • Frühzeitige Prüfung: Nach Inkrafttreten des BFSG sollte jetzt unmittelbar eine fundierte Analyse der BFSG-Anforderungen und der damit verbundenen Kosten erfolgen. Eine sorgfältige Dokumentation nach Anlage 4 BFSG kann den Grundstein für eine erfolgreiche Berufung auf unverhältnismäßige Belastung legen.
    • Selektive Umsetzung: Die Ausnahmeregelung gilt nicht pauschal, sondern bezieht sich auf einzelne Anforderungen. Banken und Finanzdienstleister können daher eine differenzierte Strategie verfolgen: Kostengünstige Barrierefreiheitsmaßnahmen implementieren, bei kostenintensiven Anforderungen die Ausnahme prüfen.
    • Compliance-Management: Ein strukturiertes Dokumentationssystem für alle Barrierefreiheitsmaßnahmen und Ausnahmeentscheidungen ist unerlässlich. Die fünfjährige Aufbewahrungspflicht macht dies zu einer langfristigen Compliance-Aufgabe.

    Die Ausnahmeregelung der unverhältnismäßigen Belastung im BFSG ist kein Freibrief, aber ein wichtiges Instrument für kleine und mittelständische Finanzinstitute. Sie ermöglicht einen pragmatischen Umgang mit den neuen Barrierefreiheitspflichten, ohne die Compliance-Verantwortung zu beseitigen. Entscheidend ist eine sorgfältige Prüfung und Dokumentation aller Einzelfälle – dann kann das BFSG auch für Late Adopters zu einer handhabbaren Herausforderung werden, ohne dass umfassende Sofortmaßnahmen erforderlich sind.

    Zum Autor

    Wir danken Dr. Philipp Hendel für die fachliche Unterstützung im Rahmen dieses Artikels. Dr. Hendel ist geschäftsführender Partner und Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht der Münchner Boutique-Kanzlei drrp Rechtsanwälte PartmbB. Finanzmarktteilnehmer in Deutschland kennen Dr. Hendel als gefragten Referenten und Mitgründer/Ideengeber des digitalen Fortbildungs-Anbieters für die Finanzbranche yourcomp.