Wer sind eigentlich „die Nutzer“? Und wie sollten sie in die Produktentwicklung eingebunden werden?

Gute Produkte und Dienstleistungen erfüllen die wesentlichen Anforderungen, die an sie gestellt werden, optimal. Doch woraus ergeben sich diese Anforderungen? Wer bestimmt sie? Der folgende Beitrag zeigt, welche wichtige Rolle „die Nutzer“ in der Produktentwicklung einnehmen, mit welchen passenden Methoden man Nutzungsanforderungen erhebt und die Qualität von Produkten aus Nutzersicht sowie das eigene Vorgehen überprüft.

Qualität ist eine Frage der Perspektive – und des Erfolgs
Die Anforderungen in der Produktentwicklung sind vielfältig: Welche Ziele sollen erreicht werden? Welchen Mehrwert soll das Produkt schaffen? Und wie setzt man sich gegenüber anderen Angeboten erfolgreich durch? Einerseits gibt die Gesetzgebung gewisse Rahmenbedingungen vor, z. B. hinsichtlich des Daten- oder Gesundheitsschutzes, die auf jeden Fall berücksichtigt werden müssen. Auf der anderen Seite verfolgen Vertrieb und Marketing ebenfalls Ziele, die mit einem Produkt oder einer Dienstleistung erfüllt werden sollen: Absatz steigern, das eigene Angebot in Bezug zum Wettbewerb optimieren, Prozesse effizienter gestalten u.v.m. Und nicht zuletzt müssen natürlich auch fachliche Anforderungen umgesetzt werden. Aber machen diese Themen ein Produkt zu einem wirklich guten Produkt? Ob es im Markt überzeugen kann, hängt nicht nur von Zielen der Stakeholder (Interessensvertreter) im Projekt, sondern vor allem von der Akzeptanz der eigentlichen Benutzer ab: Wenn das Produkt  alle Erwartungen erfüllt und die Qualität aus ihrer Sicht stimmt, werden sie es gerne nutzen, weiterempfehlen und auch auf ergänzende Angebote des Herstellers zurückgreifen.

Wer sind die Nutzer?

Nutzer sind nicht nur die Personen, die ein Produkt im eigentlichen Sinne verwenden, sondern auch Menschen, die ein Produkt lauffähig halten und warten oder durch das Produkt generierte Daten weiterverarbeiten.

 Nehmen wir als Beispiel eine Person, die online eine Reise bucht und direkt mit der Buchungssoftware interagiert. Diese Person ist ein direkter, sogenannter „primärer Benutzer“. Die Mitarbeiterin des Reiseanbieters, die die Buchungsdaten erhält und für die weitere Abwicklung der Reiseorganisation bearbeitet, wird als „indirekte Benutzer“ kategorisiert. Sie verwendet in der Regel aufgrund ihrer täglichen Arbeitsaufgaben und der unternehmensinternen Prozesse andere Applikationen und benötigt andere Funktionen als der Reisekunde.
Das Team, dass die Buchungssoftware betriebsfähig hält, zählt zu den direkten Benutzern. Sie interagieren ebenfalls direkt mit der Buchungssoftware, haben aber ganz andere Aufgaben, als Buchungsdaten zu erzeugen. Wenn alle Berührungspunkte der unterschiedlichen Nutzergruppen optimal ineinandergreifen, können Prozesse für eine hohe Nutzer- und Kundenzufriedenheit durchgeführt werden.

Anhand dieses einfachen Beispiels wird bereits deutlich, dass hier durch die unterschiedlichen Rollen und Aufgaben Anforderungen vorliegen, die für eine gute User Experience (= Benutzererlebnis) – und damit den Produkterfolg – ebenfalls berücksichtigt werden müssen.

Es ist daher wichtig und sinnvoll, sich zu Beginn einer Produktentwicklung diese unterschiedlichen Gruppen – z. B. in Form einer strukturierten Stakeholder-Analyse – vor Augen zu führen. Anhand einer gut formulierten Produktvision können dann die wesentlichen Aspekte zur Umsetzung einer ersten Produktversion oder eines Minimal viable Products (MVP) fokussiert und weitere optionale Ausbaustufen definiert werden.

Die Nutzer kennen lernen – User Research
Um die unterschiedlichen Benutzergruppen, ihre Aufgaben und Ziele sowie ihre Wünsche und Ideen angemessen erfassen zu können, stehen uns im User Research eine Vielzahl von Methoden zur Verfügung. Die bekanntesten sind sicherlich Nutzerbefragungen, Interviews und verschiedene Formen der Beobachtung, mit deren Hilfe man gut in den Arbeits- und Lebensalltag der Benutzer eintauchen und wertvolle Daten für die Definition von Anforderungen aus Nutzersicht erheben kann.

Befragungen – z. B. in Form von Online-Fragebögen – sind ein gängiges Mittel im User Research. Ein gutes Befragungskonzept stellt sicher, dass die Daten valide sind

Gruppenmoderationen wie „Fokusgruppen“ ermöglichen zum Beispiel, dass neben den direkten Benutzern weitere Stakeholder und Fachexperten aus einem bestimmten Gebiet, Themen- oder Arbeitsbereich einbezogen werden. Sie bieten sich vor allem dann an, wenn die Einschätzungen zu den Produktzielen und -mehrwert ggf. recht unterschiedlich sind. Im Rahmen einer Fokusgruppe können unterschiedliche Interessen und Sichtweisen offengelegt und ein gemeinsames Verständnis zum Entwicklungsprojekt erarbeitet werden.

Testen, testen, testen: Nutzerfeedback in die Entwicklung einbeziehen

Nachdem generelle Anforderungen und Anforderungen aus Nutzersicht (User Requirements) auf Basis der Erkenntnisse aus dem User Research formuliert wurden, kann die Entwicklungsarbeit beginnen. Hier erweisen sich besonders unterschiedliche Formen von Prototypen als ein sehr hilfreiches und schnelles Mittel, um erste Lösungsansätze nachvollziehbar zu erarbeiten. So können bereits sehr einfache Storyboards oder Paper Prototypes gemeinsam mit Nutzern auf ihre Gebrauchstauglichkeit überprüft werden. Auch hier stehen verschiedene Ansätze und Formen der Evaluation und des Testens zur Verfügung.

Bereits sehr einfache Prototypen erlauben eine frühe, schnelle und realistische Überprüfung von Lösungsideen

Echte Anwender, die nicht Teil des Entwicklungsteams sind, probieren die Prototypen praktisch aus, geben Feedback und bringen ihre Ideen und Anmerkungen für Optimierungen mit ein. Somit erhält man ein frühes und realistisches Feedback aus dem Markt: Gute Lösungsansätze werden bestätigt, Optimierungen können frühzeitig eingeplant werden.

Das regelmäßige Einholen realistischen Nutzerfeedbacks ist entscheidend für die Absicherung von Entscheidungen und die Produktqualität

Da Prototypen vergleichsweise schnell und kostengünstig erstellt und geändert werden können, lassen sich dadurch spätere, kostenintensive Change Requests in der Regel weitestgehend vermeiden. Außerdem bilden interaktive Prototypen die gewünschten Abläufe sowie das geplante Verhalten eines Produkts gut ab, wodurch sie nicht nur gut nachvollziehbar den relevanten Stakeholdern gegenüber kommuniziert werden können, sondern auch die Kommunikation mit den technischen Entwicklern spürbar erleichtern.

Schritt für Schritt und mit wiederkehrendem Nutzerfeedback kann man sich so an die Lösung heranarbeiten und die Details immer weiter nutzer- und damit marktgerecht ausfeilen.

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel

Die Erfolge einer nutzerzentrierten Entwicklung sollten in allen Fällen überprüft und bewertet werden. Denn nur so lässt sich nachvollziehen, welche Maßnahmen die Produktqualität nachhaltig steigern. Es ist wichtig, neben menschzentrierten Qualitätszielen auch menschzentrierte Kennzahlen zur Erfolgsprüfung und Optimierung des eigenen Vorgehens zu formulieren. Denn auch Nutzerzufriedenheit lässt sich in gewissem Rahmen messen. Hier können z. B. Standards wie der System Usability Scale (SUS), der Net Promoter Score (NPS) oder individuell formulierte Kennzahlen zum Einsatz kommen. Das können beispielsweise Steigerungsraten im Absatz, benötigte Bearbeitungszeiten, Fehlerraten oder die Messung von Nutzerzufriedenheit über Befragungen etc. sein.

Die Nutzerzufriedenheit sollte immer wieder geprüft und Ursachen für Veränderungen auf den Grund gegangen werden

Fazit

Viele Aspekte spielen in der Zusammenarbeit mit Nutzern eine Rolle, um ein Produkt marktgerecht und anwendungsfokussiert entwickeln zu können. Nicht in jedem Projekt kann man alles umfänglich berücksichtigen und umsetzen. Daher ist es wichtig, eine entsprechende Produktvision und greifbare sowie überprüfbare Ziele zu formulieren, um sich immer wieder auf das Wesentliche fokussieren zu können. Davon hängt ab, welche Nutzer relevant sind und in welchem Umfang sie in die Entwicklung eingebunden werden sollten, um nicht zuletzt den geplanten Invest mit Hilfe des Nutzer-Feedbacks angemessen abzusichern.

Dazu gehört auch, das eigene Vorgehen und den Mehrwert menschzentrierter Entwicklung anhand entsprechender Kennzahlen zu überprüfen, um über lange Sicht immer besser zu werden und Budgets sinnstiftend einsetzen zu können.

Zur Autorin
Carmen Hartmann-Menzel ist Usability Engineer bei rocket-media und betreut hier namhafte Kunden aus Mittelstand und Industrie sowie der Finanzbranche. Sie ist anerkannte Trainerin nach dem Standard des „International Usability and User Experience Qualification Board (UXQB)“. Seit 15 Jahren lehrt sie in den Bereichen Design / UX an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland und wurde im September 2019 auf eine Professur an der Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd im Studiengang „Interaktionsgestaltung“ berufen.

Carmen Hartmann-Menzel

Bildquellen: rocket-media und Beitragsbild Photo by Nathan Dumlao on Unsplash